2. Strukturen von Beziehungen

Die nachfolgende Beschreibung der Beziehung von Vertragsschließenden lässt sich auf alle Ebenen des Lebens übertragen und ist Grundlage der Rationalität von Liebe.

Wenn Vertragsschließende sich auf einen Vertrag einigen, so geschieht das bisweilen aus einer Haltung heraus, die zum Ziel hat:

Haltung 1: So wenig wie möglich zu geben und so viel wie möglich zu nehmen.

Es gibt auch die gegensätzliche Haltung:

Haltung 2: So wenig wie möglich zu nehmen und so viel wie möglich zu geben.

Beide Haltungen sind durch die jeweiligen Möglichkeiten und im Aushandeln eines Ausgleichs der Interessen begrenzt. Die Möglichkeiten sind meist gekennzeichnet durch Kosten plus Gewinnaufschlag. Üblicherweise hält sich der Leistungsaustausch in dem Bereich, den man Normalität nennen kann.

Die erste Haltung ist tendenziell kriminell, sofern sie den Bereich der Normalität verlässt (Eskalationspunkt: alles zu nehmen und nichts zu geben).

Der Kern der „westlichen“ Wirtschaftstheorie wurde unter anderen wesentlich geprägt von Milton Friedman, der die Freiheit der Märkte und deren Ausgleich im Konkurrenzkampf als Grundlage herausstellte. Die darwinistische Sicht auf die Wirtschaft (Überleben durch Anpassung) in Kombination mit der Durchsetzungskraft des Stärkeren hat hohe Effizienz, aber auch enorme Verwerfungen von Märkten gebracht, die oft lange in eine „falsche“ Richtung laufen. Wenn der Fehler jedoch darin besteht, dass die „Starken“ den Markt täuschen, wie z.B. beim Rauchen oder in der Klimakrise durch enorm mächtige Konzerne, dann entstehen sehr hohe und teilweise irreparable Schäden, mindestens bei denen, die getötet wurden und darüber hinaus. Wohin völlig unregulierte Märkte führen können, sieht man in den vielfältigen, extrem hohen Schäden wie z.B. die Krise 2008/2009. Ein möglichst freier Markt ist erstrebenswert, aber er kann nicht alles leisten, sondern er kann auch zu ungerechtfertigten und sehr gefährlichen Ungleichgewichten führen und seine eigene Zerstörung durch Oligarchie oder Monopole bewirken, wenn er völlig unreguliert bleibt, was kriminelle Tendenzen übermächtiger Marktteilnehmer fördern kann.

Der Ausdruck kriminell in diesem Zusammenhang geht über den üblichen Begriff hinaus. Hier ist gemeint, dass nicht nur staatlich gesetzte Normen verletzt werden, sondern generell andere absichtlich zum eigenen Vorteil geschädigt werden. Das kann auch im Rahmen der Gesetze geschehen. So waren viele Aktionen wie bestimmte Firmenübernahmen oder die Verurteilungen von Oppositionellen in Russland unter Putin wohl durch Gesetze gedeckt sind, führten aber zu unangemessene Übergriffe und Schädigungen bis zur wirtschaftlichen oder generellen Existenzvernichtung des Anderen.

Die zweite Haltung ist tendenziell auf die Realisierung der zuvor besprochenen Beziehungsstruktur der Liebe ausgerichtet und erscheint zunächst illusionär (Eskalationspunkt: alles geben und nichts nehmen (Schenkung)). Dennoch:

Es ist die dem Menschen in seinen sozialen Bezügen als Vater und Mutter als natürlich vorgegebene Haltung gegenüber den Kindern, die eben genau diese Zielsetzung hat und milliardenfach in dieser Welt tagtäglich umgesetzt wird. Eine Haltung also, aus der heraus so viel wie möglich gegeben und so wenig wie möglich für sich selbst verlangt wird.

Die zweite Haltung ist also kein seltenes Phänomen illusionärer Spinner, sondern in der Natur und Kultur des Menschen tief verwurzelt, die sich auch in sonstigem (oft unbezahltem) Engagement auf dieser Welt finden lässt.

Die zweite Haltung stellt das schwierige Paradoxon dar, dass der Mensch sein Leben gerade durch die Relativierung seines eigenen Lebens (bis hin zur Aufgabe) zu einem glücklichen und erfüllten Leben machen soll.

Da der Mensch wie zuvor definiert, Beziehung ist, kann er dieser nicht entfliehen. Er ist gezwungen, die Beziehung zu sich selbst und zu Anderen und Anderem in einen fortwährenden Prozess des Übens und der Pflege (Kultur) zu entwickeln. Üben heißt auf Altgriechisch „askein“, das mit einer gewissen Bedeutungsverschiebung im Wort asketisch aufscheint.

Die Trennung von den Egoismen pubertärer Selbstsucht wird im Allgemeinen als Reifeprozess im Übergang zu einem verantwortungsvollen Erwachsenen gesehen.

In dieser Trennung wirkt wie zuvor beschrieben die Angst mit. Eine Angst sich zu verlieren, sich in seiner jetzigen, gerade gewonnenen Identität womöglich aufzugeben, verändern und einordnen zu müssen.

Daher steigt aus dieser Angst gegen solche Ansprüche oftmals Rebellion auf.

Dem Menschen wird in weitgehend bewegungsloser und völlig sprachloser Abhängigkeit nach der Geburt in der Beziehung zu seinen pflegenden Eltern das Überleben gesichert. Und erst langsam ist er imstande eine Beziehung zu sich selbst in diese grundlegende erste Beziehungsstrukturen einzubetten. Somit geht aus einer zuvor nicht erschlossenen Welt der Sprache und Kultur, die aus dieser grundlegenden Beziehungsstruktur geprägt ist, ein zunehmendes Erwachen und Erschließen seiner Individualgeschichte hervor.

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